Es gibt Einschnitte im Leben, die unser kleines Universum ins Wanken bringen. Der Tod eines geliebten Menschen, der Verlust von Hab und Gut, Gesundheit, Arbeitsplatz - alles erschüttert uns und unsere Vorstellung von der Welt als gerechter, sicherer Ort. Vergeblich versucht unser Verstand, nach Antworten zu finden, die Widersprüche aufzulösen, uns dauerhaft abzulenken von dem, was ist. Gut so. Denn wenn die Kränkung dieses Scheiterns mal überwunden ist, können wir die Vernunft beiseite lassen. An ihrer Stelle macht sich Wildheit breit. Aufwühlend, unzähmbar, grenzenlos. Ein veränderter Bewusstseinszustand, wie in Trance und voller Möglichkeiten.
Betört und betäubt - in der Krise trübt der Verstand unsere Sinne
Wenn unser kleines Universum erschüttert wird, herrscht Ausnahmezustand. Wir erleben das, was wir nie wollten, was wir immer gefürchtet haben. Das, was immer nur den anderen passiert.
Der Verstand wehrt sich. Es darf nicht sein, was ist. Dieser Gedanke bringt uns noch mehr in Aufruhr. Raus wollen wir aus diesem Strudel, so schnell wie möglich. "Es" darf keinen Platz haben in unserem Leben. Wenn wir die Angst vor diesem unserem Schicksal in unseren Mitmenschen wahrnehmen, die ja gar nicht mal selbst betroffen sind, wird die Lage katasrophal. So allein brennt die Sonne plötzlich in den Augen, der Schlag von Schmetterlingen tut weh und Blumen...wer braucht schon Blumen.
Einen zuverlässigen Begleiter haben wir allerdings. Unser Verstand, der Vertraute, produziert fortwährend ewiggleiche Gedankenströme. Es-wird-nie-mehr-wie-früher-Gedanken treiben den Kummer auf die Spitze. Und weil der Verstand auf die Warum-ich-warum-das-Frage keine Antwort findet, sind wir obendrein noch tief gekränkt. Nicht einmal das hilft.
Vielleicht produzieren wir Gedankenströme, um uns abzulenken, um die Kontrolle nicht zu verlieren, um uns nicht eingestehen zu müssen, dass das Geschehene außerhalb unseres Einflussbereiches liegt. Wenn wir einen Teil unserer kleinen Welt nicht beeinflussen können, was sind wir dann?
Running the wild - die Wildheit des Augenblicks
Wie in Trance
In einem Ausnahmezustand verändert sich auch unser Bewusstsein. Es ist weit weg vom normalen Alltagserleben. Wenn wir irgendwann mutig genug sind, unseren Verstand ziehen zu lassen, erfahren wir in diesem Bewusstseinszustand, in dieser Wildheit aufgewühlter Emotionen und Bilder, unendliche Weiten. Ohne die Begrenzungen unseres Verstandes können scheinbare Widersprüche plötzlich nebeneinander existieren: Das Übervollsein und die Leere, das Laute und die Stille, das Kleinsein und die Größe, das Vergehende und die Beständigkeit.
Der Verstand biedert sich an
Verunsichern könnte uns dieses ungewohnte Erleben von Weite, Freiheit, Unbegrenztheit. Unser Verstand würde uns wieder zuhilfe eilen, als Retter und Ausdruck des Bekannten und Vertrauten einspringen. Er bietet uns Angst vor diesem neuen Gefühl an und verweist auf alltbekannten Schmerz. Was, wenn es der Schmerz ist, und nicht wir, der sich ausdehnt? Wenn dieses Gefühl, das wir ohnehin loswerden wollten, sich noch weiter ausbreitet bis zur tatsächlichen Unerträglichkeit? Vielleicht wäre es besser, Grenzen zu ziehen, um langsam wieder ein Stück scheinbare Sicherheit aufzubauen, damit zumindest ein Teil wieder so ist, wie es war.
Doch es ist nichts mehr so wie es war. Außer die Blumen und die Schmetterlinge und der heitere Himmel. Weil unser Verstand einen Grund für unser Befinden sucht, für unsere Wildheit, die er nicht zuordnen kann, macht er die Blumen, die Schmetterlinge und den heiteren Himmel verantwortlich. Plötzlich ertragen wir das nicht mehr, was uns früher so lieb war. Der Verstand triumphiert, er hat die Grenze gezogen, und das Gedankenkarussell kann sich weiterdrehen. Werden wir diese Dinge jemals wieder lieben können? Werden wir überhaupt jemals wieder lieben oder wird diese Leere von nun an unsere Begleiterin sein? Ach, wie sehr wir doch dieses und jenes geliebt hatten, bis das Unbeschreibliche geschah.
Diese Gedanken mögen dazu dienen, die gefürchtete Grenzenlosigkeit zu verscheuchen, indem sie uns aus dem Moment weglocken. Wir fokussieren auf das, was war oder das, was sein wird und dabei verlassen wir das Jetzt. Der Verstand verführt uns dazu, Wände aufzuziehen, die uns schützen sollen, uns undurchlässiger machen für alle Eindrücke von außen und innen.
Sensibilität als Lotse durch die Krise
Der Verstand ist, auf diese Weise benutzt, eher ein Klotz am Bein unserer Heilung. Denn dazu brauchen wir jetzigen Moment.
Nur hier im Jetzt können wir Freisein. Hier im Jetzt ist die Wildheit, die den Verstand verdrängen kann. Hier im Jetzt können wir annehmen, was ist.
Nur hier im Jetzt passiert Heilung. Unser Blick richtet sich auf das Wesentliche. Bewertungen haben hier nur wenig Raum.
Wir denken unsere Sensibilität nicht länger als Schwachpunkt. Wir entdecken sie im Jetzt als Lotse, als Kommandozentrale für das, was wirklich wichtig ist.
Und von hier im Jetzt aus ist alles, wie es ist und darf sein. Der Abschied. Der heitere Himmel. Die Blumen und die Schmetterlinge. Wir selbst.
Inspired by Thomas, Nadine, Shirin und Benjamin, den wunderbaren Meister*innen der Krise.
Petra Ouschan arbeitet bei Zent. Sie begleitet besonders gern Menschen, die sich für das Hinter-den-Dingen-Liegende interessieren.
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