Selbstwert? Ähm...

On-off und dann?

Die wankelmütige Beziehung zum Selbstwert

Hier kannst du den Text als Podcast hören:

Ein hoher Selbstwert ist wunderbar. Wenn man ihn hat. Denn der Selbstwert ist (zumindest für die meisten von uns) ein recht treuloser Geliebter. In Phasen des Erfolgs, wenn wir etwas besonderes geleistet haben oder wenn wir uns gerade mal schön fühlen oder beliebt, dürfen wir uns im Glanz seiner Anwesenheit sonnen. Ein wunderbarer, angenehmer seelisch-geistiger Zustand, der sich positiv auf unsere Lebenszufriedenheit auswirkt und uns gut tut.

Ein dauerhaft hoher Selbstwert wäre schön, allerdings gelingt das nur wenigen. Denn im Normalfall läuft zwischendurch mal was nicht ganz so toll. Da ist eine Chance vertan, die Bewerbung vergeigt, ein paar Kilos zu viel auf den Rippen, Prüfung verhaut, im Meeting nur rumgestottert, den Ärger an anderen ausgelassen. Wir fragen uns instinktiv: "Was haben wir da nur angestellt?" und im ungünstigen Fall beginnen wir damit, uns hart zu kritisieren oder gar klein zu machen. Spätestens an dieser Stelle verabschiedet sich dann der Selbstwert.

Erfolg, Leistung, Attraktivität, Beliebtheit

Wir bleiben dann oft niedergeschlagen zurück und fragen uns, wie es denn jetzt wieder aufwärts gehen könnte. Wahrscheinlich muss wieder ein Erfolg her, eine besondere Leistung. Wir arbeiten an unserer Attraktivität oder Beliebtheit, vergleichen uns mit anderen und sofern wir uns selbst positiv beurteilen können, kehrt der Selbstwert gehobener wieder zurück. Bis zum nächsten Mal, wenn etwas schief läuft.

Bei so viel Wankelmütigkeit unseres Selbstwertes könnte man sich ja die Frage stellen, ob es sich denn überhaupt lohnt, sich immer wieder auf die Selbstwertkiste einzulassen. Natürlich kann man das machen, auch in On-Off-Beziehungen finden manche Zufriedenheit. Wer sich aber nach einer Form der Selbstzuwendung sehnt, die unabhängig von Bedingungen Bestand hat, etwas Langfristiges fürs Wohlbefinden, bräuchte eine andere Strategie.

Alternative für Mutige

So eine alternative Strategie könnte sein, sich in Selbstmitgefühl zu üben. Das ist keineswegs nur was für doppelt weichgespülte Kuschelwuschelpersönlichkeiten. Selbstmitgefühl ist eine ziemlich mutige Haltung. Sie hat den Verletzungen, die wir uns im Laufe des Tages so zufügen, indem wir uns abwerten, kritisieren oder Perfektion verlangen, etwas sehr Starkes entgegenzusetzen.

Selbstmitgefühl zu kultivieren braucht schon ein wenig Entschlusskraft und Übung. Mit sich selbst hart ins Gericht zu gehen, wenn mal was nicht so gut läuft, ist schließlich eine hartnäckige Angewohnheit. "Ich bin so dumm!" - Ist schnell gedacht und vielleicht auch mehr so dahergesagt, der Selbstwert vermerkt im Hintergrund aber schon ein weiteres Strichlein in seinem Beziehungstagebuch, und wenn es voll ist, dann macht er sich wieder davon. Den alltäglichen Selbst(be)wert(ungen) die Stirn zu bieten, braucht also ein gewisses Maß an Courage und Achtsamkeit dem gegenüber, was wir den ganzen Tag so über uns denken und wie wir uns uns selbst gegenüber verhalten.

Selbstmitgefühl ist bedingungslos und lohnt sich nachhaltig

Wenn wir begonnen haben,  unser Selbstmitgefühl zu kultivieren, wird sich bald ein neues Wohlbefinden in uns breitmachen. Es ist durchaus vergleichbar mit dem, was passiert, wenn wir einen hohen Selbstwert haben. Zum Beispiel macht es uns Widerstandsfähiger gegenüber Verletzungen und sorgt für eine positivere Stimmung, ist aber im Unterschied zum Selbstwert nicht an Bedingungen geknüpft. Und genau dann, wenn wir eine miese Phase haben, unter einem Misserfolg oder irgendwelchen  Unzulänglichkeiten leiden, setzt es an. Es stärkt uns auf eine Weise, die uns unempfindlicher macht gegenüber allem, was uns sonst so am Ego kratzt. Wir erkennen zwar auch unsere Fehler, urteilen darüber aber nicht. Dadurch fällt es uns leichter, uns zu verzeihen und eine Angelegenheit oder ein Ereignis dann auch mal wieder loszulassen. Wir begreifen, dass unangenehme Erfahrungen oder "Fehler" Teil des Lebens sind. Nur anstatt uns wie üblich runterzumachen, begegnen wir uns in diesen Momenten selbst in einer liebevollen, tröstenden und unterstützenden Weise.

Selbstmitgefühl ist erlernbar

Diese selbstmitfühlende Haltung zu entwickeln ist zwar eine gewisse Kunst und passiert selten von heute auf morgen, weil wir uns ja anfangs aktiv gegen unsere eigenen Muster stellen müssen. Im Grunde ist es dann aber auch keine große Hexerei, und es lohnt sich unbedingt. Sogar Menschen, die als Kind zu wenig Zuwendung erfahren haben, können lernen, mit sich sich selbst mitfühlend umzugehen.

 

Mitgefühl ist die Fähigkeit, das Leiden anderer zu erkennen und den dringenden und tiefen Wunsch zu haben, etwas dagegen zu unternehmen. Die meisten Menschen kennen das, wenn sie eine geliebte Person trösten möchten, die gerade Kummer hat oder wenn sie jemanden aufbauen und unterstützen wollen, der es gerade schwer hat und darunter leidet. Wenn wir selbstmitfühlend handeln wollen, kehren wir diese Haltung nach innen und erweisen uns selbst diese Freundlichkeit und Güte, die wir sonst eher für unsere Mitmenschen reserviert haben.

10. April bis 12. Juni 2019


👉 Impuls für besonders feinfühlige/ hochsensible Menschen:

  • Falls dich ab und an mal der Perfektionismus plagt, kann dir die Pflege von Selbstmitgefühl wohltuende Dienste leisten.
    Selbstmitfühlende Personen setzen sich genauso ehrgeizige Ziele wie weniger selbstmitfühlende Menschen. Der Unterschied liegt im Detail: Während letztere darunter leiden, wenn es mal nicht so läuft,  und ihr Selbstwert ins Wanken gerät, können auch Hochsensible aus selbstmitfühlender Haltung alles ein wenig lockerer sehen (und fühlen).  Das Selbstmitgefühl greift nämlich genau dann, wenn wir Versagens- oder Unzulänglichkeitsgefühle haben. Anstatt bei einem unangenehmen Erlebnis auch noch hart mit uns selbst ins Gericht zu gehen, wenden wir uns selbst liebevoll zu und tragen uns durch die Situation.
  • Bist du in einem helfenden Beruf tätig, könnte Selbstmitgefühl auch langfristig dazu beitragen, vor Burnout zu schützen. Studien ergaben, dass sich selbstmitfühlende Menschen mit geringerer Wahrscheinlichkeit durch die Konfrontation mit dem Leid anderer persönlich belastet fühlen.

Falls du schon unterwegs bist, dein Selbstmitgefühl zu entdecken: Bleib dran, diese Reise wird sich bestimmt lohnen!

 

💛


Petra Ouschan ist psychologische Beraterin und Supervisorin bei Zent und begleitet ihre Klient*innen besonders gern über Mail.

Die Forschungsergebnisse zu diesem Artikel stammen von Kirstin Neff und Christopher Germer (Freundlich zu sich selbst sein - die Wissenschaft des Selbstmitgefühls).



Darf es ein bisschen mehr sein?

...manchmal auch mit Extra-Goodies...


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