Karl und die stille Nacht

draußen und drinnen

Karl wurde ein bisschen schlecht. Der Weihrauch stach in der Nase und grub sich mit dem Parfum von Tante Berta tief in seinen Magen, wo schon das Festessen lag. Die Kleinen spielten am Boden zwischen Bergen von Geschenkspapier. Endlich waren sie ein wenig ruhiger geworden. Aber nicht Ilse und Katrin, die zischten sich wie jedes Jahr auf der Eckbank an, und auch nicht Gerald und Hebs, die immer lauter über ihre Gläser hinweg lachten. Die Daumen von Lini, Isa und Philip konnte er zwar nicht hören, aber sehen konnte er sie, wie sie flink über die Oberflächen ihrer Smartphones glitten. Da sein sieht wohl anders aus. Und er sah auch den Blick von Emma und da wurde ihm noch übler.

"Da kann man sicher noch etwas davon wiederverwenden", rief Tante Berta, während er das Wohnzimmer verließ. "Ja", sagte er und ging schnell und stellte die Schachtel mit den Geschenkspapierknäueln und -fetzen auch nicht ab, während er sich die Stiefel anzog.

Ein kalter Wind blies ihm entgegen, als er die Tür aufstieß. Da war sie. Sie rief ihn.

 

Das Stimmengewirr aus dem Wohnzimmer folgte ihm bis in die Garage, wo er die Schachtel deponierte, und blieb auch in seinem Kopf, als er die dunkle Straße hinunterstapfte. Bilder vom Tag, den letzten Tagen, den letzten Wochen, den letzten Weihnachten, den Weihnachtstagen seiner Kindheit zogen durch seinen Kopf.

Karl stieg den schmalen Pfad hinauf zum Galziger, wo er sie treffen wollte, wo er sie immer traf. Anstrengend war der Weg, und als er zum ersten Mal an diesem Tag sein Keuchen vernahm, konnte er auch sie schon hören.

Er ging schneller, spürte das Knistern seiner Schritte am gefrorenen Boden, spürte seinen schnellen Herzschlag, fühlte die Traurigkeit und die Wut und die Einsamkeit und die Vorfreude und seinen stechenden Atem, der feucht am Gesicht klebte. Dann war er oben und sie war schon da. Sie breitete sich vor ihm aus wie das Dorf, das er von hier oben fast zur Gänze sehen konnte.

Er betrachtete die vielen Lichter der Häuser und fragte sich, was die Menschen darin wohl gerade taten. So viele Räume, so viele Geschichten.

Und plötzlich, im Schein des Mondes, wurden die Häuser, die Menschen und alle ihre Geschichten ein Teil von allem, was da war. Wie die Berge, die Wälder, der Schnee, seine Traurigkeit, die Wut, die Einsamkeit und die Erleichterung lagen sie vor ihm. Er sah sie an und fühlte sich plötzlich weder klein noch groß, sondern als atmender, pulsierender, lebendiger Teil von allem.

 

"Wo warst du so lang?", fragte er die Stille.

"Ich bin immer da", antwortete die Stille.

Er lächelte und die Stille lächelte zurück.

 

Gemeinsam stiegen sie den Weg hinab ins Dorf, die Straße hinauf und hinein ins Haus, wo er mit fragenden Blicken erwartet wurde. Es roch immer noch nach Weihrauch und dem Parfum von Tante Berta. Die Kinder spielten inzwischen in ihren Pyjamas am Boden, Lini, Isa und Philip sahen kurz von ihren Smartphones auf, Ilse und Katrin unterbrachen ihren Streit, Gerald und Hebs schenkten sich nach und stellten auch ihm ein volles Glas hin und Emma rutschte ein wenig zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte.

 

"Bist du noch da?", fragte er die Stille.

"Ich bin immer da", antwortete die Stille.

Er lächelte und Emma lächelte zurück.

💛


Petra Ouschan ist Mailcoach, psychologische Beraterin und Supervisorin bei Zent und textet allerlei Nützliches. In ihren Coachings und Kursen arbeitet sie sehr gern mit Geschichten, die sie sich manchmal auch für oder mit ihre(n) Klient*innen ausdenkt.


...manchmal auch mit Extra-Goodies...☺


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