Karl und sein Stück vom Frühling

Karl und sein Stück vom Frühling

Karl mochte den Frühling nicht besonders. Die Gedanken zwitscherten wie ein Vogelschwarm in seinem Kopf und sein Körper war so voller Lebendigkeit, als hätte er mit dem Grün des Grases und den Blüten der Bäume um die Wette sprudeln und die ganze Welt in Farbe tauchen können - aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, weil ihm dazu etwas fehlte.

 

Im Frühling fiel ihm besonders auf, dass er etwas vermisste. Er wünschte sich jemanden, mit dem er diese sprudelnde Lebendigkeit teilen konnte. So lange war er schon auf der Suche gewesen, und bis jetzt war er noch nicht fündig geworden.

Das machte ihn nachdenklich und das Nachdenken führte oft zur tragischen Vermutung, dass etwas mit ihm nicht ganz in Ordnung war. Dass er vielleicht weniger liebenswürdig oder weniger attraktiv oder weniger gut als andere war. An den besseren Tagen nahm er an, dass er einfach weniger Glück hatte als andere, dass er die Liebe nicht verdient hatte oder dass es sein Schicksal war, allein durchs Leben zu gehen.


🎧 Hier der Podcast zum Text:


Wenn es ihm so ging oder auch andes, eigentlich in jeder Situation, half ihm die Stille. Das hatte ihn gut durch den Sommer, den Herbst und den Winter gebracht.  In der Stille wurden seine Gedanken ruhiger und klarer und weniger schmerzhaft. In den anderen Jahreszeiten schien sie überall gewesen zu sein. Nur ausgerechnet jetzt, im Frühling, wo er sie so besonders brauchte, suchte er sie und konnte sie nicht finden.

In seiner Verzweiflung setzte Karl sich auf sein Fahrrad und versuchte zu fliehen. Wenn er schnell genug fuhr, würde er dem Frühling mit samt seinen Gedanken vielleicht entkommen und vorauseilen können in den Sommer. In den Juli oder August etwa, wo die Hitze selbst für mehr Ruhe sorgt und die Stille sich in den lauen Nächten, auf den Bergkämmen und nach Gewittern wie von selbst zu erkennen gibt. Im Sommer war die Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem er das alles teilen konnte, ein wenig erträglicher.

Er trat so kräftig er konnte in die Pedale und fuhr kilometerweit flussaufwärts und er sah nur noch den weißgesprenkelten Asphalt und hörte sein Keuchen und spürte, wie sein Herz brannte. Als er einen Krampf bekam und vom Fahrrad stieg, wurde ihm kurz übel. Er schob sich an den noch kahlen Ästen der Büsche vorbei zum Ufer und ließ sich auf einen kühlen Stein fallen. Als sich sein Atem beruhigt hatte, hörte er die Vögel rundherum und öffnete wieder die Augen. Die Berge schoben sich mit ihren weißen Gipfeln in den klaren Himmel. Über ihm wippte der erste Goldregenzweig und er fühlte sich besser.

 „Wo warst du?“, fragte er die Stille.

 

„Ich bin immer da“, antwortete die Stille.

 

„Ich bin einsam“, sagte er.

Die Stille plätscherte verspielt in den Wellen des Flusses.

 

„Weil ich diesen einen Menschen noch nicht gefunden habe“, setzte er fort und ließ einen Stein in den Fluss flitschen.

Die Stille raschelte im Tanz dreier vertrockneter Blätter und strahlte von den weißen Berggipfeln herunter.

 

„Du bist auch nicht allein“, sagte er und dachte daran, was die Stille wäre ohne das Rascheln und Plätschern und Zwitschern und der Gedanke machte ihn ein wenig wütend.

 

„Ich bin immer da“, antwortete die Stille und sie begann, ihn zu beruhigen. Es war so, wie sie es sagte. Sie war im Plätschern des Flusses und im Gezwitscher der Vögel und im Brummen der Motoren und im Gitarrenspiel von John. Sie war im Raum zwischen den Tönen, in der Pause zwischen den Atemzügen und zwischen zwei Herzschlägen.

 

„Du hast Recht, und ich spüre sie ja, diese Lebendigkeit, von der du erzählst. Ich erkenne die Poesie in allem, wenn ich bei dir bin, wenn ich bei mir bin. Und trotzdem bleibt die Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem ich all das teilen kann“, sagte Karl und der Gedanke machte ihn ein wenig traurig.

 

Das Lächeln der Stille wehte ihm wohltuend ins Gesicht. Und als die Stille ihn warm umhüllte inmitten von Vogelgezwitscher und Goldregenzweigen und Flussgeplätscher, flüsterte sie ihm zu: „Wenn du uns suchst, findest du uns nicht und wenn du auf uns wartest, kommen wir nicht. Wir sind schon längst da, wir sind immer und überall. Das ist unser Wesen.“

 

Vielleicht sprach die Stille von sich und von der Liebe, vielleicht auch von Pilzen, manchmal drückte sie sich etwas kryptisch aus. Das machte nichts. Jedenfalls - und da war Karl sich sicher - ging es darum, dass er nicht warten und nicht suchen sollte. So zumindest war es mit der Stille gewesen. Er blieb noch ein Weilchen sitzen, bis die Frühlingssonne einen langen Schatten warf und er sich auf den Nachhauseweg machte.

 

Karl fuhr in diesem Frühling noch oft am Fluss entlang. Manchmal genoss er es, sich fast bis zur Ohnmacht strampelnd zu verausgaben, und an anderen Tagen radelte er gemütlich an den Sträuchern vorbei, bestaunte die wechselnde Farbenpracht der Blüten und ließ sich vom Vogelgezwitscher berauschen.

 

Und eines Tages, als er sich durch die schon prächtig bewachsenen Sträucher schob, um zum Fluss zu kommen, saß jemand auf seinem Stein und starrte ihn über den Rand eines aufgeschlagenen Buches an. Er brachte kein Wort heraus und wollte schon umkehren, als sie sagte:

 

„Kommst du wegen der Stille hierher?“

 

Er nickte.

 

„Aber die Stille ist doch überall“, lachte sie.

 

„Erklär mir das genauer“, sagte er und kam näher.

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Petra Ouschan ist psychologische Beraterin, Coach und Supervisorin . Besonders gern berät sie ihre Klient*innen über Mail und ein paar der für gut befundenen Impulse, Tools und Geschichten aus ihrer Praxis teilt sie im Blog.


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